Auf der Straße
»Das Schlimmste ist die Einsamkeit«
Zugegeben, meinen Interviewpartner habe ich mir etwas anders vorgestellt. In seinen sportlichen Klamotten, den Rucksack neben sich auf der Parkbank abgestellt, wirkt Cédric wie ein ganz normaler junger Mann, der seine Mittagspause im Park genießt. Doch Cédrics Leben verläuft derzeit alles andere als normal: Der Tobiaspark ist quasi sein Wohnzimmer. In dem kleinen Rucksack befindet sich sein ganzes Hab und Gut.
»Dann zieht man sich halt alles an, was man dabei hat«
»Ja, ich habe schon oft draußen auf der Straße übernachtet«, erzählt der 33-Jährige frei heraus. »Jetzt im Sommer geht es, aber der Winter war hart. Dann zieht man sich halt alles an, was man dabei hat, damit es nicht so kalt wird, und sucht sich eine möglichst windgeschützte, regensichere Ecke. Da ich recht dünn bin und schnell friere, habe ich manchmal gar nicht geschlafen und mich einfach nur bewegt.« Ein Gedanke, der sich mir unweigerlich aufdrängt (und der möglicherweise etwas naiv klingt, aber ich bin eben auch behütet aufgewachsen): Hat der Mensch keine Familie?! Wo ist das ›soziale Netz‹, das in solchen Fällen angeblich greift? »Es gibt Übernachtungseinrichtungen, aber die kannte ich anfangs nicht«, sagt Cédric, »und zu meiner Familie habe ich keinen Kontakt.«
Heile Welt sieht anders aus
Er erzählt, dass er ursprünglich aus Frankfurt stammt und direkt nach der Geburt adoptiert wurde. Seinen leiblichen Eltern und seinem Zwillingsbruder ist er persönlich nie begegnet. Die Adoptiveltern gaben ihn mit 13 ins Heim. Er habe als Teenager viel Unfug gemacht, bekennt er – als wäre das ein total verständlicher Grund, sein Kind abzuschieben. Mit 16 dann der Umzug in die erste eigene Wohnung. Seine wichtigste Bezugsperson: ein Betreuer des Jugendamtes. Heile Welt sieht anders aus, denke ich. Doch Cédric ließ sich nie unterkriegen. Er absolvierte eine Maurerausbildung und verdiente seinen Lebensunterhalt in verschiedenen Jobs, etwa im Bereich Baustoffrecycling, als Fassadenreiniger, Fensterputzer und bei einem Sicherheitsdienst.
»Die Stadt gefällt mir so gut, dass ich beschlossen habe zu bleiben«
2019 wagte er schließlich den Schritt in die Selbstständigkeit – mit einem eigenen Burgerladen in Düsseldorf. Dann kam Corona, und das neu gegründete Lokal fiel dem ersten Lockdown zum Opfer. »Ich konnte keine Soforthilfen beantragen, denn dafür hätte ich die Umsätze der letzten zwei Jahre nachweisen müssen – so lange bestand mein Laden noch gar nicht.« Da Wohnung und Geschäft an ein und denselben Mietvertrag gekoppelt waren, musste er beides aufgeben. »Ich habe alles verloren.« Zunächst kroch er hier und da bei Freunden in Frankfurt und Düsseldorf unter. »Aber das konnte natürlich keine Dauerlösung sein.« Später bot ihm eine Bekannte aus Lünen ein Gästezimmer an. So reiste er vom Rhein an die Lippe. »Das mit dem Gästezimmer hat am Ende doch nicht geklappt, aber die Stadt gefällt mir so gut, dass ich beschlossen habe zu bleiben.«
»Hier halten die Jungs zusammen«
Warum es in Lünen besser ist? Cédric berichtet mir von seinem allerersten Aufenthalt in einer Frankfurter Übernachtungsstelle: »Morgens bin ich aufgewacht, und der Koffer war weg. Zum Glück hatte ich meinen Rucksack im Spint eingeschlossen, aber die Hälfte meiner Habseligkeiten war verschwunden.« So etwas sei ihm in Lünen noch nie passiert. »Hier halten die Jungs eher zusammen. Und die Menschen sind insgesamt viel hilfsbereiter.« In einer Facebook-Gruppe erkundigte er sich nach Jobs und Unterkünften. »Ich war ganz erstaunt über die vielen nützlichen Tipps und freundlichen Ratschläge, mit denen ich da aufgenommen wurde.« Ein User empfahl ihm die Übernachtungsstelle des Vereins ›Dach über dem Kopf e. V.‹: Die in Gahmen gelegene Einrichtung bietet Wohnungslosen von 18 bis 8 Uhr sicheren Unterschlupf. Alles, was man dazu braucht, ist ein Übernachtungsschein der Stadt, den es im Rathaus gibt, und ein bisschen Glück, dass nicht sämtliche Betten belegt sind.
Ohne festen Wohnsitz keinen Job – und ohne Job keinen Wohnsitz
Tagsüber besucht Cédric die Tagesstätte hinter der St.-Georg-Kirche. Hier erhalten Obdachlose ein kostenfreies Frühstück und frische Anziehsachen aus der Kleiderkammer, sie können duschen, ihre Wäsche waschen und sich eine Postadresse einrichten. Natürlich helfen die Mitarbeiter auch bei sozialen Fragen. So ist Cédric inzwischen endlich wieder krankenversichert. Jetzt fehlt nur noch eine bezahlte Arbeit. »Das Problem ist, dass ich ohne festen Wohnsitz keinen Job bekomme – und ohne Job keinen Wohnsitz. Das Sozialamt würde die Unterkunft sogar finanzieren. Aber viele Vermieter wollen nun mal keine Obdachlosen aufnehmen – und ich kann sie sogar irgendwie verstehen.«
»Ich muss jetzt dranbleiben!«
Dabei möchte der Wahllüner unbedingt in ein geregeltes Leben zurück. Bei einigen Betrieben wie einer Waschstraße und einem Supermarkt hat er sich bereits vorgestellt. Die Antwort ist immer die gleiche: »Komm wieder, wenn du eine Wohnung hast!« Als nächstes will er die Zeitarbeitsfirmen der Umgebung abklappern. »Traumhaft wäre eine Anstellung in der Gastronomie – aber grundsätzlich würde ich alles machen. Ich bin mir für nichts zu schade und hätte einfach gerne eine Aufgabe!« Aktuell kann man Cédric häufig im Park, am Kanal oder am Horstmarer See antreffen. Wenn er nicht gerade das Internet nach Jobs durchforstet, läuft er herum, hört Musik und fotografiert. »Zehn Stunden draußen zu sein, ist schön, aber auch anstrengend«, verrät er. »Das Schlimmste ist die Einsamkeit, das Alleinsein, das macht mir momentan am meisten zu schaffen. Klar quatsche ich mit den Jungs in der Tagesstätte, aber bei einigen sind Alkohol und Drogen im Spiel, da halte ich mich lieber fern. Zum Glück bekomme ich so viel Zuspruch und habe über Facebook sogar eine nette junge Dame kennengelernt, mit der ich häufig telefoniere. Sie motiviert mich, wenn ich kurz davor bin, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich muss jetzt dranbleiben!«
Nachtrag
Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns die gute Nachricht, dass Cédric von Bob Michaels, Chef der Lüner Kultgaststätte ›das Greif‹, zum Probearbeiten eingeladen wurde. Wir drücken die Daumen!
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