»Jede Seite ist eine Träne«
Biografie eines Indianers
Als Kind war Siegfried Schall Indianer. Mit seinen Freunden durchstreifte er die Wälder rund um Brambauer, kletterte auf Bäume, baute Buden und spielte im Gebüsch. Er lernte früh von den Erwachsenen, dass Krieger keine Schmerzen kennen: »Als ich mit acht vom Baum gefallen war und mir den Arm gebrochen hatte, hieß es: Tränen gibt’s nicht! Männer heulen nicht und Indianer schon gar nicht!« Dann kam der Nationalsozialismus: Judenverfolgung, KZ, Schlachten, Kriegsgefangenschaft. Ein gutes halbes Jahrhundert später hat Siegfried Schall seine Biografie verfasst, und er sagt: »Jede Seite ist eine Träne.«
»Vater hat eine Uniform«
Siegfried Schall hat Dinge erlebt, die sich die meisten von uns nicht in ihren schlimmsten Alpträumen ausmalen können. Dabei begann alles mit einer guten Nachricht. »Herbst 1933. Vater hat eine Uniform: Braunes Hemd, braune Hose, brauner Schlips und hohe Lederstiefel, braun, und ein Lederkoppel um den Bauch, auch braun.« Der erwerbslose Familienvater hatte endlich Arbeit gefunden. Ein gewisser Herr Sommer, Bergassessor Sommer von Minister Achenbach, hatte ihm eine Anstellung als Steiger auf der Zeche verschafft – und ihn im Gegenzug für die NSDAP angeworben. Der älteste Sohn Walter träumte ebenfalls davon, ein ›Braunhemd‹ zu sein, und trat der Hitler-Jugend bei. Die Stimmung in Brambauer war aufgeheizt. Sie richtete sich gegen ›Sozis‹, Kommunisten und Juden. Erste Geschäfte wurden vernichtet. Familien auseinandergerissen. Da turnte Siegfried Schall noch als ›Kleiner Adler‹ durchs Unterholz.
Erste Liebe verschwand spurlos
»Neun Jahre war ich alt«, erinnert er sich, »als im Religionsunterricht an der katholischen Volksschule der Pfarrer am Pult stand und sich auf seinen knüppelartigen Spazierstock stützte. ›Da oben an der Wand, am Kreuz, das ist Jesus. Wisst ihr, wer ihn umgebracht hat? Die Juden! Die Juden waren das! Dafür müssen sie büßen, diese Juden!‹ Ich entgegnete: ›Aber Jesus war doch auch Jude! Da steht es doch: INRI – der König der Juden!‹ An diesem Schultag wurde ich vom Pfarrer grün und blau geprügelt.« Für den eigensinnigen Jungen eines von mehreren Schlüsselerlebnissen. Mit elf verliebte er sich unsterblich in ein Mädchen vom Lyzeum: Esther. Täglich erwartete er sie an der Bushaltestelle, trug ihren Tornister und begleitete sie bis nach Hause. »1938 war ich überzeugt, dass sie mir zum Geburtstag gratulieren würde – aber sie kam nicht. Sie kam nie mehr. Wissen Sie, was es in jenen Jahren bedeutete, wenn man Esther hieß? Es bedeutete KZ!«
»Als ich mir den Dreck aus den Augen wischte, sah ich einen Trichter am Boden und am Baum Fleischfetzen«
Mit siebzehn wurde Siegfried Schall eingezogen. Statt am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium die Schulbank zu drücken, diente der Abiturient als Luftwaffenhelfer in einer Flakbatterie in Alstedde. Ab 1944 wurde er für die Elite-Truppe ›Fallschirm-Panzer-Division Hermann Göring‹ in Holland ausgebildet. Hier begegnete er dem siebzehnjährigen Bodo aus Oldenburg und Corie, einer holländischen Müllerstochter. »Jeden Sonntag brachte sie mir ein Stück Kuchen. Als sie mich irgendwann ihren Eltern vorstellen wollte – wir saßen mit Erdbeertorte zusammen – wurde ich wegen ›Verbrüderung mit dem Feind‹ von der SS verhaftet. Mein Zellengenosse Isaak war ein echter Künstler, er bastelte kleine Tiere aus gekautem Brot und Stoffresten – um nicht verrückt zu werden. Drei Tage später wurde er nach Auschwitz oder Dachau deportiert. Dieses Schicksal hätte auch mir geblüht – wenn mich meine Kameraden der Elitetruppe nicht freigeschossen hätten. Allen voran mein Kumpel Bodo! Am Turnhout-Kanal gerieten wir dann jedoch in ein Trommelfeuer der Kanadier. Es heulte, zischte und krachte. ›Bodo!‹, rief ich, ›Bodo! Wo bist du?‹ Als ich mir den Dreck aus den Augen wischte, sah ich einen Trichter am Boden und am Baum Fleischfetzen. Ich hatte nie wieder einen Freund.«
Kriegsgefangenschaft und Heimkehr
Einmal angefangen, sprudelt es aus Siegfried Schall nur so heraus. Man hat das Gefühl, er könnte immer wiedererzählen: von Feinden, die gar keine waren, und Menschen, die er verloren hat. Von Esther, Bodo, Corie und Isaak, die er nie vergessen konnte. Von den englischen Fallschirmspringern bei der berühmten Brücke von Arnheim, deren Abschuss er live miterleben musste, seiner Kriegsgefangenschaft in Russland und der abenteuerlichen Flucht aus dem Zug nach Sibirien. Immer wieder wurde der junge Mann verhaftet und eingesperrt, beschimpft und halb totgeschlagen, ehe ihm mit gerade einmal neunzehn Jahren der Ausbruch aus dem Arbeitslager Teplitz-Schönau gelang und er sich zu Fuß nach Hause durchschlug. Es gleicht einem Wunder, dass er überlebt hat.
»Es ist so wichtig, dieses Wissen zu erhalten«
»Ich hatte große Probleme, mit den Erlebnissen fertigzuwerden, daher war das Schreiben der Biografie für mich eher wie eine Psychotherapie«, berichtet der heute 95-Jährige. »Da ich allerdings von meinem Umfeld immer wieder danach gefragt wurde, dachte ich mir schließlich: Dann geh ich halt in die Druckerei‹. Rund 300 Exemplare des im Eigenverlag erschienenen Büchleins hat er bereits an Freunde und Interessierte verschenkt. Seine eindrucksvollen Geschichten erzählt er als Zeitzeuge auch in Schulen. »Es ist so wichtig, dieses Wissen über die Nazizeit zu erhalten und nachfolgenden Generationen Bericht zu erstatten: Was ist damals eigentlich konkret passiert? Wie war das von Mensch zu Mensch?«
Positive Erinnerungen
Zurück in seiner alten Heimat holte Siegfried Schall das Abitur nach. Er studierte an der Pädagogischen Akademie in Lünen und arbeitete ab 1949 als Volksschullehrer in Solingen. Später wurde er Dozent für Physik und Mathematik und leitete das Deutsche Rechenzentrum in Darmstadt. Als Experte auf dem Gebiet der Sicherheit in der Informationstechnik war er für das Verteidigungs- und Innenministerium tätig. Auch darüber hat er Bücher geschrieben. Heute wohnt er mit seiner Lebensgefährtin Raphaela Suhrkamp in Freiburg. An seine Zeit in Lünen denkt er immer wieder gerne zurück. »Meine Mutter hat bis zu ihrem Tode 1997 in Brambauer gewohnt, und ich habe sie jedes Jahr besucht. Von daher verbinde ich mit der Stadt nicht nur schlechte, sondern auch viele positive Erinnerungen. Lesen Sie einfach das Buch!«
Siegfried Schall
›Die Tränen eines Indianers‹
Schlechte und gute Erinnerungen aus der Jugend (1926–1947)
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