Wo der Krieg einst ganz nah war
Besuch auf dem Muna-Gelände in Selm
Alteingesessene Anwohner kennen die Geschichte des Geländes: Einst, im Zweiten Weltkrieg, wurde hier Munition produziert und gelagert, bis die Alliierten diesem Treiben mittels gezielter Bombardierung und entsprechenden Opferzahlen ein Ende setzten. Erinnerungen und Geschichten, welchen vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse auf dem Gebiet der Ukraine auf unangenehmste Weise neues Leben eingehaucht wird. Es sind Erinnerungen an Zeiten, in denen der Krieg auch bei uns ganz nah war.
Ohne zu vergessen, dass in der deutschen Geschichte das eigene Land die Rolle des Aggressors einnahm, kennt Krieg eben keine Gewinner innerhalb einer Bevölkerung. Zerstörung, Tod und Verzweiflung nehmen den Platz von Zukunft, Gemeinschaft und Hoffnung ein. Das zumindest spiegeln jene Bilder wider, die uns aktuell durch die Abendnachrichten begleiten und an die schreckliche Geschichte unseres eigenen Landes erinnern. Mitten in Europa. Damals, wie heute. Auch in Selm. Die Rede ist von der ehemaligen Luftwaffen-Hauptmunitionsanstalt, im Volksmund ›Muna‹ genannt. Nach Kriegsende durch die Bundeswehr genutzt, finden sich heute die ›Forschungs- und Technologiezentrum Ladungssicherung Selm gGmbH‹ (LaSiSe) sowie das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP) auf der weitläufigen Liegenschaft. Zwischen Lünen, Cappenberg und Bork liegt das Gebiet, und es wirkt fast geheimnisvoll, ist es doch nicht für Jedermann zugänglich und in großen Teilen in naturbelassene Wälder eingebettet.
»Polizei, auf den Boden!«
»Polizei! Auf den Boden! Sofort!«, schallt es durch das Geäst gleich neben der riesigen asphaltierten Fläche für Fahrsicherheitstrainings und fahrdynamische Untersuchungen des LaSiSe, und als unbescholtener Besucher ist man umgehend geneigt, dieser energischen Aufforderung Folge zu leisten. »Ganz ruhig bleiben«, unterbricht Maik Hähnel, der technische Betriebsleiter des LaSiSe, diesen Gedankengang. »Sollte jemand um Hilfe schreien, besteht auch hier zunächst einmal kein Grund zur Panik. Auf dem Gelände nebenan läuft lediglich die Polizeiausbildung, in der solche Situationen täglich simuliert und geübt werden. Daran gewöhnt man sich, wenn man hier arbeitet. Eben war noch eine Gruppe junger Polizisten zum Fahrsicherheitstraining bei uns. Aber erst einmal: Guten Morgen!« Maik Hähnel hat sich bereit erklärt, das Stadtmagazin einen Blick hinter die Zäune und Schranken der ehemaligen Muna werfen zu lassen. Gibt es wohl noch Dinge, die an die Vergangenheit erinnern? Was geschieht hier heute? Was ist an den Verschwörungstheorien dran, die sich um das Gelände ranken?
Verschwörungen und Geheimnisse
»Nun, damit kann ich aufräumen«, sagt Maik Hähnel. »So mancher behauptet ja, das Gelände sei komplett ›unterkellert‹. Wir haben hier schon einige Baumaßnahmen mitbekommen und sind weder auf Katakomben, noch auf sonstige Geheimnisse gestoßen. Sollte vielleicht noch jemand auf die Idee kommen, dass hier fliegende Untertassen gelagert werden, muss ich diese Hoffnung leider auch enttäuschen. Im Keller unseres Verwaltungsgebäudes lagere ich allerdings momentan 1.200 Schulranzen für eine Stiftung aus Dortmund und Hilfsgüter, die in die Ukraine gebracht werden. Einige unserer Mitarbeiter engagieren sich hier, gemeinsam mit anderen Helfern, ehrenamtlich, was wir gern unterstützen. Keine Geheimgänge und keine UFOs also. Aber oberirdische, zerstörte Munitionsbunker, die gibt es noch. Genauso wie die Hallen und die Infrastruktur der Bundeswehr, die sich in einem guten Zustand befinden und von uns als Lagerflächen genutzt werden. Wir renovieren nach und nach, was wir nutzen möchten. So hat auch die Fachhochschule Dortmund hier einen Standort für die Fachbereiche Maschinenbau und Fahrzeugentwicklung gefunden. Hin und wieder bekommen wir auch eine Ladung Lebensmittel, um für Supermarktketten die optimale Ladungssicherung unter Realbedingungen zu untersuchen. Da diese Dinge nicht mehr in den Verkauf kommen, lagern wir sie für kurze Zeit, um sie anschließend dem guten Zweck zukommen zu lassen. Wir versuchen also, Sicherheit zu erhöhen und gleichzeitig Ressourcen sinnvoll zu nutzen. Das ist nun wenig geheimnis-, dafür aber sinn-voll!«
Spuren der Vergangenheit
Etwas abseits säumen Zäune das Grundstück des LaSiSe. Nicht etwa, weil hier das weitläufige Gelände enden würde. Vielmehr weckt der Zweck jener Begrenzung wieder den Gedanken an die Geschichte. »Ab hier können wir nicht weitergehen. Hier beginnt der Bereich, der noch nicht geräumt ist«, erklärt Maik Hähnel. Wovon er spricht, ist Munition – Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Das geben auch die Schilder zu Protokoll, die in regelmäßigen Abständen, gut sichtbar an den Zäunen angebracht sind, hinter denen die Gefahr lauert, wie auch große Krater im Waldboden vermuten lassen. »Das sind keine natürlichen Vertiefungen, selbst wenn das durch die Erosion der Jahrzehnte fast so wirkt«, bestätigt Maik Hähnel. »Man erahnt noch, dass hier entweder etwas eingeschlagen oder explodiert ist. Im Wald befindet sich noch eine Fülle von explosiven Munitionsresten. Und selbst dann, wenn nichts explodiert, ist Vorsicht geboten, denn mit den Chemikalien, die sich im Boden befinden, ist ebenfalls nicht zu spaßen. Der zuständige Förster des Gebiets wie auch die mit der Räumung befassten Profis bewegen sich hier nur auf abgesteckten Pfaden. Wer sich aus Abenteuerlust Zugang verschafft, spielt buchstäblich mit seinem Leben. Auch das hat die Vergangenheit bereits in tragischer Weise unter Beweis gestellt.«
So sind die alten und von der Natur vereinnahmten Munitionsbunker bei diesem Rundgang nur aus der Ferne zu betrachten. Zu gefährlich wäre eine Annäherung. Fast mahnend wirken sie, die Betonplatten, die man im Wald kaum noch erkennen kann.
Der Wandel der Zeit
In Deutschland haben sich die Dinge nach den Schrecken des Kriegs und der Nazi-Diktatur glücklicherweise wieder zum Positiven gewendet. Wo einst Munition produziert und gelagert wurde, werden nun junge Polizisten ausgebildet, die im Dienste einer echten Demokratie stehen. Das LaSiSe schafft mehr Sicherheit im Straßenverkehr und nutzt die Möglichkeiten des Geländes, um sich sozial zu engagieren. Ausgehend von einem ehemaligen Munitionsdepot starten Hilfstransporte für ein Kriegsgebiet, zu Zwecken der Ladungssicherung verwendete Produkte werden für den guten Zweck ausgeliefert. Die BRD ist für Nachbarn wieder Partner und Helfer anstatt Aggressor und Besatzer. Menschen engagieren sich füreinander. Die Dinge haben sich in einer Weise gewandelt, die man sich zu Kriegszeiten sicherlich so nicht vorstellen konnte. Wo Krieg und Zerstörung regierten, herrscht heute neues Miteinander.
Zukunft gestalten
Mit Blick auf den Schrecken der Bilder in den Nachrichten sät diese Erkenntnis, fast 80 Jahre nach Kriegsende in Deutschland, so etwas wie ein Fünkchen Hoffnung für die Ukraine. Es ist die Hoffnung, dass auch nach den dunkelsten Zeiten, in denen kaum noch Perspektiven für ein Land bestehen, wieder Neues und Gutes entstehen können. Durch die Menschen dieses Landes, die wieder Zukunft gestalten und den Schrecken des Krieges hinter sich lassen werden. Menschen, die bereit sind, diesen langen Weg auf sich zu nehmen. Es ist die Hoffnung, dass es eine Zukunft gibt für die Bewohnerinnen und Bewohner der Ukraine. So wie es Zukunft für Deutschland gab. Durch die Hilfe unserer heutigen Partner und durch den Durchhaltewillen der Menschen vor Ort. Dort, wo der Krieg einst eben ganz nah war. Nicht zuletzt ist diese Betrachtung und der Einblick, den Maik Hähnel uns ermöglicht hat, gleichzeitig ein Aufruf, sich nicht an die Bilder der Nachrichten zu ›gewöhnen‹ und sich weiterhin solidarisch zu verhalten. So, wie es die Mitarbeiter des LaSiSe tun. Auch nach dem hoffentlich nahen Ende dieses Schreckens in der Ukraine. Dann, wenn es darum geht, gemeinsam in eine neue, europäische Zukunft zu blicken und die Vergangenheit darüber nicht zu vergessen.
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