WhingChun
Wittener lehrt klassische Kampfkunst aus dem alten China
Blitzartig bewegt sich der Arm mit dem Messer auf mich zu. Ich schlage ihn zur Seite, packe Oberarm und Handgelenk, vollführe eine leichte Drehung und zwinge meinen Gegner mit einem gezielt eingesetzten Hebel zu Boden. Nun gut, das Messer ist bloß ein Gummimesser, und mein Gegner gar nicht so böse wie er aussieht, als Trainingspartner tut er nämlich netterweise genau das, was er tun soll, damit ich ihn möglichst geschmeidig niederringen kann. Trotzdem fühle ich mich in diesem Moment ein bisschen wie Bruce Lee.
Training für den hoffentlich niemals eintretenden Ernstfall
»Den Arm beim Hebeln richtig langziehen, sonst wirkt es nicht«, korrigiert ›Sihing‹ (= Lehrer) Stefan Schmitz und holt mich damit auf den Boden der Tatsachen zurück. Es ist meine erste Stunde in der WhingChun-Schule für Selbstverteidigung, und ein paar hundert Mal werde ich diesen komplexen Bewegungsablauf wohl noch üben müssen, bis er so weit in Fleisch und Blut übergeht, dass ich ihn in einer Notsituation abrufen könnte – theoretisch. WhingChun-Training ist Training für den hoffentlich niemals eintretenden Ernstfall.
Von Mönchen entwickelt
»Die Techniken zur Abwehr eines körperlich überlegenen oder gar bewaffneten Feindes wurden bereits vor dreihundert Jahren in China praktiziert«, erklärt Stefan Schmitz. »Im Internet stößt man auf viele blumige Geschichten, wonach WhingChun – eine besonders effiziente Unterart der Kung Fu – von einer Frau erfunden worden sein soll, was aber Quatsch ist, da Frauen damals in China keinen hohen gesellschaftlichen Rang genossen. Wahrscheinlich geht die Kampfkunst auf fünf Mönche zurück, die ihre verschiedenen Kampfstile zu einer einzigen hoch effektiven Methode zusammengeführt haben.«
Normale Leute ›wie du und ich‹
Die Menschen, die in den beiden Schulen des Witteners in Bochum-Stiepel und Dortmund-Barop trainieren, sind aber keine muskelbepackten Supersportler, sondern ganz normale Leute ›wie du und ich‹. Personen zwischen 16 und 66, die vielleicht irgendwann in der Vergangenheit einmal eine schlechte Erfahrung gemacht, sich hilflos gefühlt haben. Oder die nach Feierabend einfach noch ein bisschen was für Körper und Geist tun wollen. Schüler und Studentinnen, IT-Fachleute, Feuerwehrmänner, Polizisten und sogar ein Richter. Jeder kann mitmachen, man muss nicht überdurchschnittlich fit sein.
»Wenn es geht, immer wegrennen!«
Denn WhingChun ist genaugenommen kein Sport. Es gibt kein Aufwärmprogramm, keine überflüssigen Bewegungen. Trainiert werden realistische Situationen, waffenlos oder mit Stöcken und Gummimessern. »Die Verteidigung gegen ein Messer ist keine Spielerei, sondern sehr schwierig und eigentlich nur möglich, wenn der Angreifer selbst nicht mit seiner Waffe umgehen kann«, warnt der Lehrer. »Daher sollte man, wenn es geht, immer wegrennen, auch wenn das keine Heldentat ist! Wenn man aber nicht wegrennen kann, weil man beispielsweise mit dem Rücken zur Wand steht, dann muss man den Gegner zuerst kampfunfähig machen – bevor man rennt!« So lernen wir heute, uns gegen einen hoffentlich sehr ungeschickten Messerstecher zur Wehr zu setzen.
Projekte mit Schülern
Im Idealfall soll es natürlich gar nicht erst zur Konfrontation kommen. »Wer WhingChun trainiert, schult dadurch nicht nur Reaktion und Motorik, er ändert zudem seine innere Einstellung und Körperhaltung«, weiß Stefan Schmitz, der in Kooperation mit der GLS Treuhand Stiftung auch mit Schulklassen und unterstützungsbedürftigen Schülern arbeitet. »Man verlässt seine Opferrolle, wird selbstbewusster und strahlt das auch aus. Das merke ich vor allem bei den Kindern ganz stark. Wenn ich bei denen nach ein paar Wochen Training mal nachfrage wie es läuft, bekomme ich häufig zu hören: Der Junge, der mich früher immer geärgert hat, ist jetzt vernünftig geworden.«
»Hier achtet jeder auf den anderen«
Insbesondere mit den Schülern werden im Rahmen des WhingChun-Unterrichts auch deeskalierende Gesten und Lösungen zum verbalen Schlichten eingeübt. In erster Linie gilt es, Handgreiflichkeiten zu vermeiden, sich ohne Schlägerei zu behaupten. Nur wenn sich die aggressive Auseinandersetzung nicht verhindern lässt, kommen die Kampftechniken zum Einsatz. »Dabei achtet hier jeder auf den anderen. Respektvoller Umgang ist das A und O. In meiner Zeit als Sihing hat es noch keinen einzigen Unfall gegeben. Fußball ist gefährlicher!«
Wobei: Ein paar blaue Flecken kann man schon davontragen, schließlich sollen Gefahrensituationen so echt wie möglich nachgestellt werden. Aber die hat am Ende meiner ersten Stunde eher mein Trainingspartner – vom vielen freiwilligen Hinfallen.