Witten – Pakistan
Von der Waldorflehrerin, die auszog, um Brücken zu bauen …
Zehn Flugstunden und unzählige kulturelle Unterschiede trennen Witten an der Ruhr von der Stadt Lahore in Pakistan. Hier bei uns: ein funktionierendes Sozialsystem. Schulpflicht. Das Versprechen, alles erreichen, seine Träume verwirklichen zu können. Dort: Kinder, die arbeiten gehen, statt weiter Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen.
Zwischen Orient und Okzident
»Allerdings sind die Menschen des Ostens ihren Wurzeln und Träumen oft näher als wir in der westlichen Welt«, berichtet Shahida Perveen-Hannesen. Die Wittener Waldorfpädagogin pakistanischer Herkunft hat es sich zur Aufgabe gemacht, Brücken zu bauen: zwischen Orient und Okzident, Tradition und Moderne, Islam und Christentum. »Wichtige Aspekte der orientalischen Welt wie das Leben im Einklang mit der Natur, Hilfsbereitschaft als eine von fünf Säulen des Islam oder die besondere Bedeutung von Märchen und Fabelwesen finden sich allerdings in der anthroposophischen Weltanschauung nach Rudolph Steiner wieder. Alles hängt zusammen, und man weiß nie, wo sich eine Tür öffnet.«
»Ich hatte schon als junges Mädchen das Ziel, etwas zu bewegen«
Spulen wir vierzig Jahre zurück: Es war Ende der Siebziger, als ein Studienplatz am Institut für Waldorf- und Heilpädagogik Shahida Perveen-Hannesen nach Witten führte. »Ich hatte es damals viel leichter als die heutigen Flüchtlinge, weil ich in der Familie meines Bruders wohnen konnte und im sozialen Bereich gearbeitet habe, da findet man schnell Freunde. Zudem war das Studium die Verwirklichung eines lang gehegten Traums.« Sie habe immer Lehrerin werden wollen, erzählt die heute Sechzigjährige. »Meine Eltern waren sozial sehr engagiert, haben ständig bei den Nachbarn ausgeholfen, auf deren Kinder aufgepasst, Ältere gepflegt. Das hat mich geprägt. So hatte ich schon als junges Mädchen das Ziel, etwas zu bewegen, eine neue Denkweise in Gesellschaft und Arbeitswelt zu erzeugen. Und Schule ist die beste Plattform, um Menschen zu erreichen.«
Erstes Bio-Brot Pakistans wurde in Behindertenwerkstatt gebacken
Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem damaligen Geschäftsführer des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik Hellmut Hannesen, fasste die junge Mutter zweier kleiner Kinder im Jahr 2001 einen idealistischen Entschluss: Man wollte nach Lahore in Pakistan umziehen, dort eine Lebensgemeinschaft für geistig behinderte Menschen eröffnen. »Natürlich war das ein riesiger Schritt, jedoch ist diesem Schritt jahrelange Planung vorhergegangen: Schon weit im Vorfeld hatten wir Kontakte zu lokalen Akteuren aufgebaut, Grundstücke gekauft und alles in die Wege geleitet. Die Idee ›Wohnen und Arbeiten mit Behinderten‹ war zu der Zeit ganz neu, sodass wir vor Ort bereits nach wenigen Wochen weithin bekannt waren. Mit unseren Werkstätten für biologische Landwirtschaft, Holz und Textilien wollten wir zeigen, dass gehandicapte Menschen die Fähigkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und gleichzeitig das Bewusstsein für Umwelt und Nachhaltigkeit zu schärfen. So wurde in unserer Einrichtung das allererste Bio-Brot Pakistans gebacken.« Doch dann, am 11. September 2001, geschah etwas, was die Weltgeschichte veränderte und die deutschen Verwandten und Freunde des Ehepaares in große Sorge versetzte. »Trotz der Entwicklung entschieden wir, weiter dort zu bleiben. Wir haben viel Kraft und privates Vermögen in das Projekt gesteckt, aber auch unglaublich viel Unterstützung aus Deutschland und Pakistan bekommen.«
»Kinder einfacher Bauern gehen heute zur Uni«
Im Jahr 2005 entstand die ›Green Earth Roshni School‹, eine inklusiv orientierte, waldorfpädagogische Bildungseinrichtung für sozial benachteiligte Kinder der ersten bis achten Klasse. ›Roshni‹ bedeutet übersetzt ›das Licht‹, und dieses Motto zieht sich wie ein roter Faden durch den unermüdlichen Einsatz des Wittener Ehepaares. »Anfangs gab es nur drei Schüler – unsere eigenen Kinder und ein Pflegekind. Aber es wurden schnell mehr, und heute haben wir 285!« Ein reicher Fabrikant hatte das Gebäude gestiftet, die laufenden Kosten wurden – und werden nach wie vor – durch Spenden gestemmt. »In Pakistan unterrichten die staatlichen Schulen auf dem Dorf nur bis zur fünften Klasse, ihr Zustand ist oft schlecht, und die Privatschulen sind für die meisten Familien viel zu teuer«, erklärt Shahida Perveen-Hannesen. »Zudem existiert die Schulpflicht nur auf dem Papier, weshalb die meisten Menschen dort keine Bildung genießen. Ich habe mit Eltern gesprochen, die nicht wussten, wie alt ihre Kinder sind. Sie konnten mir nur sagen: ›Er oder sie wurde während der Reisernte geboren‹. Ich sagte: ›Ja, aber in welcher?‹« Sie lacht. »Viele dieser Kinder einfacher Bauern, Putzfrauen oder Straßenfeger gehen heute aufs College oder zur Uni.«
Gesucht: Spenden und Manpower
Gesundheitliche Gründe zwangen die Familie 2010 zur Rückkehr nach Witten, doch Shahida Perveen-Hannesen ist auch heute noch regelmäßig vor Ort in Lahore, aus Fernweh und um den Kontakt zu lokalen Sponsoren zu pflegen, in den Werkstätten auszuhelfen, Elternarbeit zu betreiben und die pakistanischen Lehrer fortzubilden: »Um die Einstellung von qualifizierten Lehrpersonen zu finanzieren, sind wir weiter auf Spenden angewiesen. Darüber hinaus bieten wir interessante Möglichkeiten für junge Menschen aus Deutschland, die uns vor Ort im Rahmen eines sozialen oder ökologischen Jahres oder einer Dozententätigkeit unterstützen wollen. Ich möchte allen freiwilligen Studenten, Dozenten und Sponsoren herzlich danken, dass sie es mir mit ihrem Einsatz auch in schwierigen politischen Zeiten in Lahore ermöglicht haben, eine Brücke zwischen Okzident und Orient zu bauen! Die zwei Heilpädagogen Lars Jamke und Grehem Simpson beispielsweise haben uns vier Jahre ihres Lebens dort geschenkt, und Alexander Kühne lebt bereits seit neun Jahren dort und arbeitet im Bereich der Landwirtschaft.«
Ein Wittener Ort der Begegnung
Und auch in ihrer zweiten Heimat Witten blieb sie nicht untätig, unterrichtete Migranten in Deutsch, arbeitete mit Behinderten und half in Flüchtlingsunterkünften aus. »Schon durch meine Deutschkurse mit Asylbewerbern in der Billerbeck Waldorfschule merkte ich, wie wichtig es ist, einen schönen Ort zu haben, wo Menschen aus verschiedenen Ländern sich begegnen, die deutsche Kultur kennenlernen und sich zu Hause fühlen können. Beziehungsweise machte ich mir Sorgen, dass viele dieser Menschen sonst nur in Hinterhöfen und Kellerräumen zusammenkommen.« Im Jahr 2015 eröffnete unter ihrer Initiative im ehemaligen Kunstatelier an der Dortmunder Straße / Ecke Im Wullen der ›Ort der Begegnung‹, ein offener Treffpunkt für Nachbarn, Freunde, Fremde und Zugezogene, an dem »Kunst und Farben zur Heilung der Seele« beitragen. Regelmäßig finden hier Kulturveranstaltungen wie Konzerte und Lesungen, aber auch Nähgruppen, Frauenfrühstücke, Kaffeetrinken und Tanzabende sowie Deutschkurse statt. Moralisch unterstützt und finanziert wird das Angebot von Nachbarn und verschiedenen Initiativen. Shahida Perveen-Hannesen weiß aus eigener Erfahrung: »Am besten lernt man nicht aus Büchern, sondern durch den Kontakt mit Menschen, bei Märchen und Theaterstücken oder beim gemeinsamen Einkaufen, Kochen und Essen. Denn so verinnerlicht man nicht nur die Grammatik der Sprache, man verinnerlicht die Grammatik der Kultur. Während der großen Flüchtlingswelle haben wir mit 100 Leuten hier gesessen und gegessen, das war eine tolle Zeit!« Sie betont: »Geschlossene Gesellschaften gibt es bei uns nicht. Die Türen stehen jederzeit und jedermann offen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen, die draußen auf der Straße vorbeigehen, einfach mal hereinkommen, nur so, aber mit ihren eigenen Ideen. Trauen Sie sich!«
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Stichwort: Ort der Begegnung