Stadtmagazin Witten: Kunst und Kultur

Die blöde Kuh

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Ruhrpott-Döneken von Winfried Dittrich

»Wie können Sie meinem Sohn so etwas antun? Ticken Sie nicht mehr richtig? Er will keine Wurst mehr essen!«, hallte es aus meinem Telefonhörer, den ich mittlerweile mit zehn Zentimetern Abstand zu meinem Ohr hielt. Es war Sonntagnachmittag, und ich telefonierte bereits seit einer Viertelstunde mit dieser aufgebrachten Frau. Ihr Sohn hatte sich schon nach der ersten Stunde unseres Kindergeburtstages von mir nach Hause bringen lassen. »Entschuldigung, aber das habe ich beim besten Willen nicht vorhersehen können, dass Ihr Sohn so reagiert. Für meine Kinder ist das vollkommen normal. An so etwas hätte ich im Leben nicht gedacht«, sagte ich und hoffte, dass sich die Situation langsam bereinigen lassen würde.

Wir hatten bei diesem Kindergeburtstag mal an alles gedacht. Also, dachten wir zumindest. Spiele, die nicht langweilig sind, aber auch kein Kind überfordern würden. Getränke, in denen nicht zu viel Zucker enthalten war, die die Kinder trotzdem trinken würden. Leckeres Essen, nicht zu fettig, gesund, kompatibel mit Nussallergie, Glutenunverträglichkeit, Laktoseintoleranz. Auch vegetarischer und sogar veganer Ernährungsphilosophie wurden wir gerecht. Bei der Alternative mit Fleisch verzichteten wir dann sogar auf Schweinefleisch. Und nein, es gab nicht nur Pommes mit Geflügelbockwurst oder Tofu! Anscheinend gibt es bei Kindergeburtstagen aber so etwas wie das verflixte siebte Mal.

Bei den ersten Kindergeburtstagen schlugen wir uns ganz tapfer. Dritter, vierter, fünfter und sechster Geburtstag von Alfred, dritter und vierter Geburtstag von Lieschen … Alle liefen im Großen und Ganzen reibungsarm und glimpflich ab. Okay, der sechste Geburtstag hatte es schon in sich. Die Kinder sollten sich nach den gemeinsamen Spielen mal ein paar Minuten selber beschäftigen. Malen war da angesagt. Zwei Kinder stritten sich um einen frisch angespitzten Buntstift, als dieses Mädchen den Stift in das Auge des Jungen stieß. Ich stand direkt daneben. Ein Urschrei und mein Herz rutschte in die Hose. Glücklicherweise passierte nichts weiter. Wie durch ein Wunder. Ich habe noch Alpträume danach gehabt. Ab da war ich dann eigentlich der Ansicht gewesen, die schlimmsten Kindergeburtstagskatastrophen hinter mir zu haben. Fehlanzeige.

Diese blöde Kuh, dachte ich. Diese blöde Kuh! Der Eklat war beim Kuchenessen passiert. Die Kinder saßen an unserem großen Esstisch und ließen sich den Geburtstagskuchen schmecken. Die Stimmung war super. Doch dann fiel dem besagten Sohnemann der Frau am Hörer ein großes Stück des Kuchens von der Gabel. Erst auf seinen bunt bedruckten Pullover, wo es anhaftete. Dann rollte es daran entlang in seinen Schoß herunter und hinterließ eine schöne Zucker-Krümel-Spur. Zwischen den Beinen des Jungen hindurch fiel es dann auf den Boden – Platsch. Alle neun Kinder, die rundherum am Tisch saßen, hielten kurz inne, bevor ein großes Gelächter ausbrach.

Alfred, mein an diesem Tag sieben Jahre alt gewordener Sohn, kommentierte diesen kleinen Vorfall damit, dass es ja kein großes Problem sei. Wir könnten das Kuhfell ja einfach ausbürsten, sobald die Kuchenreste getrocknet wären. Der Junge solle das Stück einfach liegen lassen. Mir war es sehr recht. Die Stimmung am Tisch war gut und sollte so bleiben. Hinterher musste ich ja sowieso alles aufräumen und sauber machen.

Den kleinen, bebrillten Klassenprimus hatten wir auch zu Gast. Und der merkte an, dass man solche Verschmutzungen auf einem Teppich nicht liegen lassen sollte, weil dann die Fasern verkleben würden. Bei denen zu Hause würde so etwas immer gleich weggewischt und ausgewaschen werden. Wäre ja auch hygienischer. Dieser Bemerkung maß ich keine große Aufmerksamkeit zu, abgesehen von einem inneren Augenrollen. Nur dann stieg Lieschen in die Unterhaltung ein, unsere Vierjährige … »Aber das ist doch gar kein Teppich. Das ist ein Kuhfell mit echten Haaren. Das können wir einfach ausbürsten!« Wenn sie einmal mit dem Plappern angefangen hatte, dann war sie nur schwer zu bremsen. »Das war mal eine echte Kuh. Und die gehörte meinem Opa Adam. Und die Kuh hieß Elisabeth, so wie ich. Und irgendwann war ihr Euter leer. Und dann hat Opa sie geschlachtet. Und dann hat er Wurst aus ihr gemacht. Und dann haben wir sie aufgegessen. Hahahahaha.« Meine Vierjährige hat eine wirklich laute und dreckige Lache.

»Lieschen, jetzt ist gut! Sei jetzt mal still!«, rief ich in einem bestimmten, dennoch dem Geburtstag angemessen Ton. Das Lachen der Kinder verstummte kurz. Es wurde dann aber von dem Lachen meiner Tochter wieder angefacht, die minutenlang nicht damit aufhören konnte. Alle Kinder lachten. Bis auf diesen einen Jungen. Er wurde ganz still, blickte mich mit großen Augen an und fragte: »Das stimmt doch nicht, oder? Das ist doch ein Teppich, oder?« »Na ja«, antwortete ich, zog meine Augenbrauen hoch und kratzte an meinem Kopf. »Doch. Was Lieschen da gerade erzählt hat, das stimmt im Prinzip. Ihr Opa Adam ist Milchbauer, und der liebt seine Kühe. Und wenn die alt werden und keine Milch mehr geben, dann müssen sie halt irgendwann gehen.«

»Aber warum habt ihr die Kuh auf dem Boden liegen? Und ihr habt sie doch nicht gegessen, oder?«

»Also das Kuhfell lässt sich wirklich viel leichter reinigen als ein Teppich. Der Opa von Lieschen ist auch Metzger und hat dann das Fleisch von Elisabeth weiterverarbeitet. Da konnte Alfred auch schon ganz fleißig mithelfen. Hier, die Rinds-würstchen, die wir gerade zum Mittagessen hatten, die waren doch lecker. Die waren auch noch von Elisabeth.« Der Junge sagte dann nur noch, dass er heim wolle; kein weiteres Wort mehr. Seinem Wunsch kam ich nach und brachte ihn schnell nach Hause. Bis an die Wohnungstür. Dann musste ich direkt wieder zurück, um meine Frau nicht zu lange mit der Party-Meute alleine zu lassen. Zeit für große Erklärungen war nicht da.

Ja, und jetzt hatte ich diese Mutter am Telefon, der ich erklären sollte, warum ihr Sohn so verstört war. Hier, mitten in der Großstadt, da gibt es halt Familien, bei denen der Strom aus der Steckdose, das Wasser aus der Leitung und das Essen aus dem Supermarkt kommt. Und, dass Fleisch und Wurst etwas mit Tieren zu tun haben könnten, das ist leider manchmal jenseits des familiären Horizontes. Erdbeerkäse ist aber im Kühlschrank immer auf Lager.

Die Frau am Telefonhörer redete weiter auf mich ein, folgen konnte ich ihr jedoch nicht. Meine Gedanken schweiften ab. Hin zu dem blöden Kuhfell, das wir uns von meinem Schwiegervater hatten schenken, besser gesagt, hatten aufschwatzen lassen. Ich mache niemandem einen Vorwurf, außer mir selbst. Dass ich mich von meinem Schwiegervater hatte breitschlagen lassen, das Kuhfell als Geschenk anzunehmen. Dass ich einwilligte, das Kuhfell unter unserem Esstisch zu platzieren, ganz rustikal. Dass ich unbedingt die restlichen Rindswürstchen, die wir aus Elisabeth gemacht hatten, aufbrauchen und damit den Kindern etwas Besonderes bieten wollte. Die Wurst war halt wirklich lecker.

»Blöde Kuh!«, entfuhr es mir, bevor ich merkte, dass die Mutter immer noch am Telefon war. »Was haben Sie da gerade gesagt? Warum beleidigen Sie mich jetzt auch noch?« Klick.  Aufgelegt, bevor ich noch ein Wort sagen konnte. So ein Mist. So ein Ärger. Jetzt war sie auch noch persönlich beleidigt. Und ich ziemlich angefressen. Irgendwie konnte ich sie ja verstehen. Wie würde dann Alfred jetzt dastehen, wenn diese Geschichte in seiner Klasse die Runde machen würde? Sofort klingelte das Telefon wieder. Ich ging ran, in der Annahme, dass es ein Versehen war mit dem Auflegen. Aber das war es nicht. »Na Schwiegersohn, habt ihr den Geburtstag über die Bühne gebracht? Haben die Kinder die restlichen Würstchen genossen? Nächste Woche ist die Katharina dran. Dann mach ich neue.« Mein Schwiegervater. Der fehlte mir jetzt noch. »Tag Adam, ja, war gut.«

»Ach, ich hab’ übrigens noch ein Geschenk für Alfred in die Post gegeben. Ich musste doch letzten Winter unser Schaf Marion notschlachten, als es mit dem Kopf am Zaun hängen blieb und habe jetzt ein ganz tolles Schaf-Fell von der Gerberei zurückbekommen. Das kann sich der Alfred, die kleine Frostbeule, im nächsten Winter ins Bett legen.« Jetzt war ich es, der einfach auflegte. An dem Flecken von dem Kuchenstück schrubbte ich anschließend mindestens zwanzig Minuten. Von wegen ›leicht zu reinigen‹.

›Quatsch zum Lesen und Kucken‹

Die Inspiration zu seinen humorvollen Anekdoten und Gedichten erfährt Winfried Dittrich durch seine drei Töchter, die mit ihm und seiner Frau in Witten-Bommern leben. Sie dürfen sich mindestens jede zweite Woche auf einen neuen Text von ihm freuen. Zu finden sind die Wortspielereien sowie seine ›Wandspritzereien‹ auf seiner Homepage. Unser Tipp: Werfen Sie mal einen Blick. Es lohnt sich!
winniepott.jimdofree.com

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