Stadtmagazin Witten: Kunst und Kultur

›Rock Around The Tannenbaum‹

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Moment einmal, Sie sind noch auf der Pirsch nach einem kleinen Geschenkgiganten, mit dem Sie Freunde und Freundinnen, gute Bekannte und noch bessere Verwandte zu Weihnachten überraschen möchten? Hier haben wir eine wunderbare Idee für Sie, nämlich ›Rock Around The Tannenbaum‹, eine Sammlung von zehn Geschichten, die allesamt mit der feierlichen Jahresendzeit zu tun haben – kreiert von Autor und Journalist Ulli Engelbrecht.

»In der Weihnachtszeit hält man ja bekanntlich eine Weile inne und lässt das Jahr, das bald zu Ende gehen wird, nochmals Revue passieren. Bei mir entwickelt sich die besinnliche Rückschau zu einem amüsanten Ritt durch die Rock- und Popmusik der 1970er- und 1980er-Jahre«, erzählt er. »So sinniere ich unter anderem über seltsame Hirngespinste beim Konzert des ehemaligen ›Spliff‹-Drummers Herwig Mitteregger, erzähle von einem adventlichen TV-Abend mit dem ›Kommissar‹ und der Musik von Ten Years After, berichte über festlich aufgemotzte Pophits in Endlosschleife oder verrate, was die Klangwelt von Mike Oldfield mit schmackhaften Würstchen in einem rotierenden Topf mit kochendem Wasser drin zu tun hat.«

Unser Fazit: Sehr unterhaltsam und zum Verschenken schön! Vielleicht werfen Sie einfach mal einen Blick auf Anekdote Nummer eins und lassen sich mit auf eine lustige musikalische Reise nehmen. Entstanden sind die Erinnerungen damals übrigens direkt ›umme‹ Ecke, nämlich in Langendreer.

Erhältlich ist ›Rock Around The Tannenbaum‹ (BoD, Paperback, 88 Seiten, ISBN-13: 9783754356821)
für 4,99 Euro (eBook: 3,99 Euro) bei zahlreichen Online-Händlern und auch im stationären Buchhandel.

Infos zu Uli Engelbrecht finden Sie unter: www.ulli-engelbrecht.de / www.facebook.com/Rockstorys
https://ruhrpodcast.de/2021/11/17/ruhrpodcast-lebensgefuehle-und-klangwelten-der-70er-und-80er-jahre/

Anekdote aus dem Buch

Über die Wiederbelebung von Gedankenschrott

Nicht nur zur Weihnachtszeit findet bei mir eine mentale Wiederbelebung meines Gedankenschrotts statt. Ich solle lieber den Blick fest in die Zukunft richten, sagt man mir dann, und damit aufhören, in der Vergangenheit herumzudenken. Als ob das so einfach wäre.

Prüfen Sie sich einmal selbst: Was geschieht wohl, wenn ich Ihnen beispielsweise das Wort Klassenfahrt! entgegenrufe. Oder Klammerblues! Oder den Titel eines berühmten Liedes von Abba. Ich sag’s Ihnen gerne: Da öffnen sich, wie von Geisterhand bewegt, in Ihrem Oberstübchen Schranktüren und Schubladen und geben Ihnen den Blick frei auf Ereignisse, von denen Sie glaubten, dass Sie sie schon längst verdrängt oder komplett vergessen hätten. Mein Tipp: Seien Sie mutig, fahren Sie den Schrott nach und nach ab. Unterhalten Sie damit Ihren Freundeskreis oder wildfremde Menschen. Ich tue das ja auch, gerade jetzt sogar, in diesem Moment.

Vor einer Stunde erst habe ich Ten Years After gehört und musste sofort an Fritz Wepper denken. Und warum? Mein Bruder schenkte mir Weihnachten 1972 eine Platte der britischen Band, die ich aber nicht am gleichen Tag hören konnte, weil sich meine Eltern über meine langen Haare aufregten, die aber gar nicht so lang waren, sondern eher so lang wie die von Fritz Wepper in seiner Rolle in der ZDF-Krimi-Serie ›Der Kommissar‹, die trotz Farbfernsehen stets in Schwarzweiß ausgestrahlt wurde und mit einer markigen Musik begann:

Bam tata-tatata-dudeldidel…
bam tata-tatata-dudeldidel…

Na, klingelt’s? Mit Erik Ode, dem väterlichen Kommissar Keller, Reinhard Glemnitz, dem öligen Robert Heines, Günther Schramm, dem bodenständigen Walter Grabert und eben mit Fritz Wepper als grünschnäbeligem Harry Klein. Die Mörderjagd als vergrübeltes Kammerspiel mit Dialogen wie auf der Theaterbühne:

Er: Tot? Sie ist tot? Wieso ist sie tot? Hast Du gehört Wilma, die Bassenge ist tot!

Sie: Tot? Aber warum ist sie tot?

Er: Aber du hast doch gehört, was der Kommissar gesagt hat. Dass sie tot ist! Das hast du doch gehört? Oder?

Sie: Aber warum ist sie tot? Sie war doch noch heute Morgen hier. Hat hier gesessen. Hat hier getrunken. Hat hier gegessen. Hat hier gelacht. Hat hier geredet. Und jetzt – Herr Kommissar – jetzt ist sie – tot? Sie ist tatsächlich – tot?

Er: Ja doch! Du hörst doch, was der Kommissar sagt. Tot ist sie, nicht wahr, Herr Kommissar? Sie ist tot! Die Bassenge ist doch tot?

So ging das stundenlang.

Unvorstellbar heute. Und Kommissar Keller stand ungerührt mittendrin, hörte aufmerksam zu, trank wahlweise dazu einen Schoppen Wein, eine Maß Bier oder ein wie auch immer geartetes hochprozentiges Herrengedeck, lächelte gütig und allwissend, schob dabei mehrmals seine rechte Hand in die Sakkotasche, fingerte seine Schachteln heraus und kettenrauchte während solcher ermittlungsintensiven Szenen ungefähr 45 Zigaretten.

Mein Vater Erich rauchte nicht so viel, dafür stank es aber gewaltig, wenn er zur Serie seine Spezialmarke ›Finas‹ in Brand steckte. Ägyptische Zigaretten waren das, oval geformt, filterlos, etwas ganz Besonderes. Im Gegensatz zu unserem alten Fernsehapparat. Wir besaßen 1972 immer noch kein Farb-TV und guckten die Christmette in Schwarzweiß. Farbig waren nur die Hüllen der Schallplatten, die am späten Nachmittag nach der Bescherung aufgelegt wurden: Heintje, Favorit meiner Mutter. Peter Alexander, Favorit meines Vaters. Reinhard Mey, Favorit meines älteren Bruders. Ten Years After, mein Favorit.

Das Album, das er mir feierlich überreichte, hieß ›Rock ’n‘ Roll Music Around The World‹. Viel später dann, nach der Mette, landete noch eine Platte von James Last auf dem Teller: ›Christmas Dancing‹. Obwohl keiner von uns dazu tanzte.

Ten Years After spielte in jenen Tagen den angesagtesten Bluesrock überhaupt – also nicht unbedingt die passende Weihnachtsmusik für den sehr engen Familienkreis, deshalb durfte ich sie auch nicht auf dem elterlichen Dual-Plattenspieler auflegen. Nur angucken. Einen eigenen Spieler besaß ich noch nicht. Dafür aber lange Haare. Die waren damals quasi gesetzlich vorgeschrieben für alle Jungs ab 12 aufwärts bis unendlich. Harry Klein trug lange Haare, James Last trug auch lange Haare. Ich war 15. Also war es mir ebenfalls gestattet.

Meine Mutter Maria war außer sich, dass ihr Zweitgeborener uneinsichtig blieb und sogar jetzt, zum Fest der Freude und des Friedens und zu Jesu Geburt, sich weigerte, die Haare kürzen zu lassen. Jesus trug doch auch immer lange Haare, sagte ich bedeutsam, deutete auf das schwarze und sehr massive Holzkreuz, das im Eltern-Schlafzimmer über dem Weihwasserbecken hing, duckte mich fix weg, damit ich einer eventuell folgenden Ohrfeige ausweichen konnte.

Die Figur an dem Kreuz, sicherlich fünfzig Zentimeter groß, gefertigt aus schwerem Metall und schon leicht speckig, zeigte den leidenden Jesus, dessen mittelgescheitelte Matte leicht dauerwellig bis weit über seine Schulter hing. Länger sogar als bei Alvin Lee, dem Gitarristen von Ten Years After, wie ich es dem kleinen Foto auf der Rückseite des Album-Covers entnehmen konnte.

Ich hatte in meinem bislang erst kurzen Leben aber noch keine einzige Jesus-Abbildung gesehen, auf der der Mann einen Kurzhaarschnitt trug. Und immerhin war ich angehalten, als guter Katholik und Messdiener, Gottes Sohn nicht nur zu dienen, sondern auch anzubeten. Einen Langhaarigen!

Mutters Hand blieb diesmal in der Kitteltasche, dafür entwickelte sich zwischen ihr und ihrem Mann ein Disput über das Thema lange Haare, in Dramaturgie und Dialogführung einer ›Kommissar‹-Folge nicht unähnlich:
Maria: Lange Haare? Wieso lange Haare? Hast Du gehört Erich, was der Bengel gerade gesagt hat?

Erich: Jaja. Lange Haare. Das ist eben die Zeit. Es haben doch zur Zeit alle lange Haare …

Und so weiter.

Ten Years After war meine vielleicht neunte oder zehnte Begegnung mit einer Band, in der die Musiker lange Haare trugen. Zum allerersten Mal sah ich solche tollen Wollen auf den Köpfen der Mannen von Aphrodite’s Child, einer Band griechischen Ursprungs, die mit ›Spring, Summer, Winter And Fall‹ und ›I Want To Live‹ veritable Hits landete, an die ich mich kaum noch erinnere. Was mir jedoch bis heute von dem Quartett im Gedächtnis haften geblieben ist, sind die wahnsinnig üppigen Matten der vier Musiker und deren wahnsinnig dichte Körperbehaarung. Das undurchdringliche Geflecht sah für mich aus wie schwarzes Moos, in dem Handwerkszeuge wie Mikrofon, Trommelstock oder Gitarre kaum noch erkennbar waren.

Lange Haare und Rockmusik gehörten damals für mich untrennbar zusammen wie Cindy & Bert, Fix & Foxi oder Wim & Wum. Apropos Wum. Warum eigentlich kletterte Wum zur Weihnachtszeit 1972 in die Hitparade? Weltweit wurde John Lennons Happy Christmas, War Is Over gesungen, nur nicht in Deutschland. Hier rauschte alle naselang Ich wünsch‘ mir ‘ne kleine Mietzekatze von Wum durch den Äther. Ein Song, der von einem Weihnachtslied so weit entfernt war wie die damalige Bundeshauptstadt Bonn vom Alpha-Centauri-Sternensystem. Verrückt, nicht wahr?

Wum, das war der von Loriot gezeichnete putzige Hund, dem der legendäre Cartoonist auch seine Stimme lieh, und der Wim zur Seite stand. Sie erinnern sich? Wim Thoelke, Showmaster der ZDF-Quizsendung ›3x9‹. Wim & Wum – eine seltsame Paarbindung. Und beileibe nicht die Einzige in jenen Zeiten, wo es im Fernsehen nur so wimmelte von kuriosen und omnipräsenten Zusammengehörigkeiten, auf die ich im Moment nicht weiter eingehen möchte. Denn die Gefahr wäre groß, dass ich mich auf den labyrinthischen Wegen durch die Historie des Flimmerkastenprogramms und dessen Begleiterscheinungen, und wie diese den Alltag beeinflussten, verlaufen würde.

Und dann hätte ich am Ende noch den Überblick über meinen Aufsatz verloren, der nur verknappt darstellen soll, worum es in meinen Geschichten geht: nämlich um Musik und Mediales und um Leidensfähigkeit und Lebensgefühle. Mein Gedankenschrott will schließlich ordentlich getrennt und aufbereitet und kommentiert sein, ansonsten stünde er wie eine wilde Wortmüllkippe voll mit unreflektiertem und unnützem Wissen völlig verloren in der Textlandschaft herum.

Nachsatz: Heintje mochte Pferde und sammelte Heiratsanträge von erwachsenen Frauen. James Last ist tot, war aber mal stinkreich und verlor sein gesamtes Vermögen. Und Alvin Lee, auch schon tot, spielte in seiner Freizeit Klarinette. Das musste noch gesagt werden.

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