Sahneschnitten
Historisches und Autobiografisches rund um den Crengeldanz
Herzige Erinnerungen an die Kindheit, spannende und berührende Anekdoten aus seinem Arbeitsleben und viel, viel Wissenswertes rund um den Crengeldanz. … Die ›Sahneschnitten‹ von Gerd Gahr sind wirklich ausgesprochen lesens- und ansehenswert.
Als jüngstes Kind von vier Geschwistern im Jahr 1956 geboren, bleibt Gerd Gahr zeitlebens seiner Heimatstdt Witten treu und wohnt fast ausschließlich im Ortsteil Crengeldanz. In der Zeit des Wirtschaftswunders prägen ihn der beginnende Liberalismus in der Gesellschaft genauso wie Woodstock, Schalke 04 und Willy Brandt. Die Liebe zum Fotografieren und Zeichnen kommen ihm in seinem Beruf als Vermesser zugute. Nicht zuletzt gilt ein weiteres Hauptaugenmerk seiner Familie, bestehend aus Ehefrau, zwei Töchtern, Schwiegersohn und derzeit zwei Enkeln.
Der Gewinn einer Sahnetorte in einem Ideenwettbewerb im Stadtviertel und eine nicht ganz korrekte Wiedergabe eines Zeitungsinterviews brachten den Hevener auf die Idee, seine gesammelten ›Sahneschnitten‹, sprich autobiografische und historische Fakten teils humorvoll, teils nachdenklich in Buchform festzuhalten. Diese wird ergänzt durch eine Vielzahl von ausdrucksstarken Bildern.
Phantomschmerz
Die Hartleifstraße biegt von der Langendreer Straße nach Osten ab und kann als jüngste neue Anwohnerstraße des Crengeldanzes bezeichnet werden. An einem düsteren, regnerischen Freitag sind mein Kollege Karl und ich beauftragt, die Gebäudefeinabsteckung auf dem letzten freien Grundstück durchzuführen. Wir markieren wie immer die Hauptecken des geplanten Gebäudes mit Fluchtstäben und warten dann auf die Baufirma, die mit Holzpfählen und Brettern die sogenannten Schnurgerüste setzen muss. Es vergeht einige Zeit, bis ein kleiner Lkw mit Baumaterial vorfährt. Der Fahrer ist seiner Aussprache nach wahrscheinlich polnischer Herkunft und lässt nach einer dem Wetter entsprechenden kühlen Begrüßung seinem Frust freien Lauf. Tenor seiner Tirade ist sein Unverständnis, zum bevorstehenden Wochenende noch eine neue Baustelle einrichten zu müssen und das ganz allein ohne einen Kollegen.
Wir können ihn ein wenig beruhigen und bieten ihm unsere Hilfe an. Als erstes bräuchten wir die angespitzten Kanthölzer. Die muss er erst noch schneiden und bearbeiten. Also verkriechen Karl und ich uns erst nochmal in den Messwagen für ein Bütterchen. Mit einem Auge beobachten wir unseren Kollegen vom Bau. Ich nenne ihn mal Robert. Er lädt das Holz ab, bringt den Lkw in Stellung und steckt das Kabel für die Kreissäge in den Stromkasten. Diese lässt er auf der Ladefläche stehen. Sie ist mit einem grobzähnigen Sägeblatt bestückt. Von Karl kommt der Kommentar: »Oh, Oh.« Robert beginnt zu sägen und als ich das nächste Mal bewusst hinschaue, springt Robert mit Entsetzen in den Augen vom Lkw. Er hält sich mit der linken Hand die stark blutende rechte Hand fest und kommt auf unseren Wagen zugelaufen. Wir springen ihm sofort zu Hilfe und irgendwie laufen die nächsten Minuten ab wie im Film. Verbandkasten raus, alle Verbandpäckchen auspacken und auf die Wunde verteilen, Druckverband anlegen und den Arm hochhalten.
Da das Knappschaftskrankenhaus nur ein paar hundert Meter entfernt liegt und ich weiß, wo die Notaufnahme ist, beschließen wir, Robert direkt dorthin zu bringen. Karl hat dann noch eine Idee. Er erklärt sich bereit, den Finger von der Unfallstelle zu bergen. Wir verstauen das Überbleibsel im Innern einer sauberen Packung Papiertaschentücher, die ich aber an mich nehmen muss. Robert steht derweil unter Schock und versucht während der Fahrt, mit der linken Hand seinen Chef per Handy zu erreichen. An der Rampe der Notaufnahme angekommen, beginnt das nächste filmreife Kapitel. Robert schwitzt sehr stark im Schockzustand und ich nehme seine linke Hand, damit er mir so kurz vor dem Ziel nicht aus dem Latschen kippt.
Und so laufen Pat und Patachon Hand in Hand in Räuberzivil über einen Flur, bis uns das Personal in Empfang nimmt. Robert wird sofort weggebracht, aber Oberschwester Hildegard verfrachtet mich auch kurzerhand in einen Rollstuhl mit der Bemerkung: »Wenn Sie mir hier umfallen...« Dann kommt Professor Brinkmann und fragt nach dem Rest des Fingers. Vollgepumpt mit Adrenalin lupfe ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht das Päckchen aus der Jackentasche und sorge dadurch bei den meisten Anwesenden für einen Brüller.
Zwei Jahre später bei einer Vermessung in Bochum fällt mir ein junger Mann auf, der mich ein wenig verstohlen mustert. Der Firmenname auf dem Lkw kommt mir bekannt vor und bei genauerem Hinsehen erkenne ich Robert wieder. Wir kommen ins Gespräch und er klagt mir sein Leid. Der Finger konnte nicht wieder angenäht werden. Die Kreissäge mit den großen Zähnen hatte mehr abgerissen als geschnitten. Robert erzählt von den Schwierigkeiten mit der Berufsgenossenschaft wegen Vernachlässigung von Arbeitsschutzvorschriften. Die Beeinträchtigung bei der Arbeit auf dem Bau ist gewaltig. Doch das Schlimmste ist der verfluchte Phantomschmerz, der ihn so manche Nacht nicht schlafen lässt. Die genaue Ursache für gefühlte Schmerzen in einem amputierten Glied oder Finger, wie bei Robert, ist noch nicht eindeutig geklärt. Veränderungen des Schmerzempfinden der gekappten Nervenbahnen zum Gehirn und die dortige ›Weiterverarbeitung‹ spielen wohl eine große Rolle. Linderung schaffen Medikamente sowie komplizierte neurologische Therapien. Viel Glück, armer Robert. Du schaffst das schon ...
Auszug aus ›Sahneschnitten. Historisches und Autobiografisches aus Witten rund um den Crengeldanz‹
›Sahneschnitten. Historisches und Autobiografisches aus Witten rund um den Crengeldanz‹
200 Seiten · DIN A4 · Verlag ›Books on Demand‹ (BoD) · 40,50 Euro
Bestellungen beim Autor sind auch per E-Mail möglich (eulegahr [at] unitybox.de). Bei Sammelbestellungen ab 25 Stück kostet ein Buch 28 Euro.