»Für was ist Tanzen die beste Rache?«
Melanie Manchot erobert urbane Räume
Was hat ein weißes Pferd in der zubetonierten Marler City zu suchen? Warum ziehen Gruppen junger Menschen tanzend durch die Straßen von Biel? Und wie kann ein Handstand die Sicht auf London verändern? Die Künstlerin Melanie Manchot bricht mit Erwartungen und zeigt urbane Räume in einem neuen Licht.
Wie Architektur unser Verhalten steuert
Ausgewählte Werke der in Witten geborenen Londonerin werden aktuell im Märkischen Museum präsentiert, und schon der Titel ›Dancing is the best revenge‹ macht neugierig. Das wollen wir uns nicht entgehen lassen. Im Museum treffen wir Kuratorin Claudia Rinke, die uns auf unserem Rundgang begleitet. Von ihr erfahren wir, dass die Schau Teil der regionalen Ausstellung ›Ruhr Ding: Schlaf, 2023‹ ist, die derzeit unter Federführung von ›Urbane Künste Ruhr‹ an öffentlichen Orten in Witten, Essen, Mülheim und Gelsenkirchen stattfindet. Passenderweise spielt der öffentliche Raum auch bei Melanie Manchot eine zentrale Rolle. »Die Künstlerin interessiert sich für das Verhältnis von Mensch und urbaner Umgebung und für die Frage, wie Architektur unser Verhalten steuert«, erklärt Claudia Rinke. »Wie empfinden wir unsere Körper in den Städten, die wir prägen und durch die wir geprägt worden sind?«
Handstand als feministische Performance
Das Thema begegnet uns gleich bei unserer Ankunft, und zwar in Form von rund 50 Handstandbildern. Die Fotografien stammen aus der Serie ›Inversions (London)‹ und wurden an unterschiedlichen öffentlichen Plätzen aufgenommen: vor Wohn- und Bürogebäuden, in der Unterführung, zwischen Graffiti-beschmierten Mauern, im Park, auf dem Sportplatz … »Die Reihe hat 2021 während des zweiten Londoner Lockdowns begonnen«, erzählt Claudia Rinke. »Alle Projekte waren gestoppt. Andere Leute fingen an, zu Hause Musik zu machen. Melanie Manchot hat sich selbst Handstand beigebracht.« Das allein ist schon irgendwie eine Kunst für sich – wie jeder weiß, der das Stehen auf Händen schon einmal selbst ausprobiert hat –, aber natürlich steckt noch viel mehr dahinter: »Es geht ihr darum, sich anders mit Orten in Verbindung zu bringen – durch die Berührung des Bodens mit den Händen, die sonst während der Pandemie nichts anfassen durften. Damit stellt sich Melanie Manchot in die Tradition feministischer Performance, die darauf abzielt, durch männliche Architektur geprägte Städte mit dem weiblichen Körper zurückzuerobern.«
Von Küssen und Kämpfen
Ein Werk zum Schmunzeln erwartet uns im nächsten Teil der Ausstellung. Für die Videoarbeit ›For a moment between strangers‹ hat Melanie Manchot fremde Passant*innen in London, LA und Köln auf offener Straße um einen Kuss gebeten und die Reaktionen mit versteckter Kamera gefilmt. Auf humorvolle Weise wird hier sozial übliches Verhalten durchbrochen – und es ist äußerst amüsant zu beobachten, wie die ›Opfer‹ des kleinen Streichs damit umgehen. Um Intimität in der Öffentlichkeit geht es auch in den beiden Kurzfilmen ›Kiss‹ und ›Fight‹. Der erste zeigt ein innig küssendes Paar in einem Doppeldeckerbus, der zweite die – nicht weniger körperliche – Auseinandersetzung zwischen einem alten Hells Angel und einem Fahrradkurier. Leidenschaft hat viele Gesichter, aber sie wirkt immer isolierend, denn die Außenwelt wird von den Beteiligten unwillkürlich ausgeblendet. »Die Szenen haben sich im Beisein der Künstlerin wirklich so ereignet und wurden von Schauspieler*innen nachgestellt«, verrät Claudia Rinke.
An der Grenze zum Surrealismus
Dagegen entführt uns die Videoinstallation ›Cornered Star‹ in die triste Nachkriegsarchitektur der menschenleeren Marler Innenstadt. Vor den kahlen Betonlandschaften wirkt das weiße Pferd wie ein Fremdkörper. Der beunruhigende Soundteppich verstärkt die surreale Atmosphäre einer dystopischen Zukunftsvision. Ist das nun das Ende oder ein neuer Anfang? Handelt es sich bei dem Pferd um das letzte, zum Aussterben verdammte Lebewesen einer toten Welt – oder wird sich die Natur ihr Terrain zurückerobern? An der Grenze zum Surrealismus bewegt sich auch das Werk ›Dreamcollector‹, für das Menschen in Mexico City beim Schlafen in öffentlichen Parks gefilmt und im Anschluss nach ihren Träumen befragt wurden. Innenwelten werden so für Außenstehende erfahrbar gemacht. Gleichzeitig drängt sich die Frage nach der Bedeutung von Träumen und Individualität in unserer durch Normen und Leistung geprägten Gesellschaft auf. Mit ganz ähnlichen Motiven scheint sich die titelgebende Arbeit zu befassen: Der Film ›Dancing is the best revenge‹ begleitet verschiedene Tanzgruppen auf ihren Wegen durch die Stadt. »Hier fragt man sich automatisch: Für was ist Tanz die beste Rache?«, so Claudia Rinke. Sie hat eine Vermutung: »Der städtische Raum ist nicht zum Tanzen gemacht. Es trotzdem zu tun, hat etwas Befreiendes. Hier geht es also ebenfalls um die Rückeroberung von Orten, die Rückkehr zur eigenen Natur.«
Sie werden die Stadt mit anderen Augen sehen
Und damit sind wir noch längst nicht am Ende der Ausstellung angelangt. Auf unserem weiteren Weg durch das Märkische Museum begegnen wir unter anderem den Pole-Tänzerinnen der Bochumer Golden Girls Table Dance Bar, nackten Club-Türstehern auf Ibiza und indisch-pakistanischen Kopftuchträgerinnen im King’s College von Cambridge. Was genau es damit auf sich hat sollten Sie selbst herausfinden. Wir wollen hier schließlich nicht alles spoilern. So viel sei aber verraten: Der Besuch lohnt sich, auch ohne Vorwissen, denn jedes einzelne der spannenden Werke eröffnet Raum für vielfältige Interpretationen, inspiriert und regt zum Nachdenken an. Danach werden Sie die Stadt womöglich mit anderen Augen sehen.
Melanie Manchot: ›Dancing is the best revenge‹
Lfd.–24.09. · Mi.–So. · 12–18 Uhr · Märkisches Museum Witten
www.kulturforum-witten.de/de/maerkischesmuseumwitten
Film-Tipp
Für das ›Ruhr Ding: Schlaf‹ entstand der Film ›Liquid Skin‹, der sich dem Leben und Arbeiten bei Nacht widmet. Zu diesem Zweck folgte die Künstlerin Melanie Manchot verschiedenen Nachtarbeiterinnen mit der Infrarot-Kamera, etwa einer Pole-Tänzerin, einer Bäckerin, einer BOGESTRA-Mitarbeiterin, einer Wachfrau oder einer Reinigungskraft. Die Videoinstallation kann noch bis zum 25. Juni in der Wittener WERK°STADT besichtigt werden.
Melanie Manchot: ›Liquid Skin‹
Lfd.–25.06. · Mi.–So. · 11–18 Uhr
WERK°STADT Witten · www.werk-stadt.com