Das baltische Schatzkästlein
Wieder einmal waren wir für Sie – und für uns! – unterwegs, um eher unbekannte Reisedomizile zu erkunden und zu erleben. Und in der Tat: Die Tour nach Litauen war ein wahres Erlebnis.
»Es lohnt sich, einfach in einen beliebigen Hof hineinzugehen und zu entdecken, was für Geheimnisse er birgt«, sagt der Stadtführer, als er uns in einen solchen Hinterhof – schattig, grün, rustikal, ruhig – in der Altstadt von Vilnius führt. Das Geheimnis dieses Hofs ist die Statue einer nackten Frau, die anmutig einen Bären reitet. »Und falls Anwohner euch argwöhnisch beäugen, sagt ihr einfach, dass ihr euer Airbnb sucht. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand seine Wohnung an Touristen vermietet, ist in jedem Hof hier fast 100 Prozent.« Die Reisegruppe lacht, macht Fotos von der vermeintlichen alten baltischen Göttin des Waldes und pilgert durch das enge Tor wieder hinaus auf die Gasse, gespannt, welches kleine Geheimnis hinter der nächsten Ecke oder dem nächsten Tor wartet.
So wie Vilnius wirkt Litauen im Ganzen auf die meisten Deutschen: größtenteils unbekannt und voller Überraschungen. Für manche ist alles jenseits von Oder und Neiße eh alles irgendwie Osten, irgendwie schon Russland. Die meisten – darunter auch ich – werden zumindest mit den drei baltischen Staaten, von denen zwei auch noch ähnlich heißen (Litauen, Lettland und Estland) durcheinanderkommen. Doch diese drei kleinen EU-Mitglieder an der Ostsee sind alles andere als russisch, nicht mal slawisch, und auch wenn sie oft zusammenarbeiten und -halten, haben sie doch alle ihre ganz eigene Identität.
Herzstück der Hauptstadt Litauens, Vilnius, ist ihre gemütlich-quirlige Altstadt. Sie ist bei Einheimischen wie bei Touristen und Zugezogenen gleichermaßen beliebt. Hier wird Geschichte vom Mittelalter bis zur Moderne spürbar, und die Geschichte der Stadt ist ausgesprochen wechselhaft. Historikfreunde können im Museum des rekonstruierten Stadtschlosses einen ganzen Tag zubringen, Liebhaber der bildenden Künste erfreuen sich an den zahlreichen Kirchen und ihren prächtigen barocken Jesuitenaltären. Die Jesuiten haben früher in Litauen gut zu missionieren gehabt, möchte man meinen. Schließlich war Litauen das letzte Land in Europa, das das Christentum angenommen hat – erst 1387 nämlich, fast 400 Jahre später als Island und knapp 1.000 Jahre nach Deutschland!
Deshalb, möchte man augenzwinkernd glauben, sieht die Kathedrale, der katholische Bischofssitz, eher aus wie ein prächtiger, alter griechischer Tempel denn wie eine Kirche. Tatsächlich lebt der alte baltische Naturglaube weiter. Will man den Berg der drei Kreuze besteigen (christlicher als ein Kalvarienberg wird’s wohl nicht mehr), so kann man im Wäldchen einen aktiv genutzten heidnischen Steinkreis finden. Bei den Kreuzen angekommen, kann man schließlich wunderbar bei Sonnenuntergang die Kirchtürme der Altstadt zählen – oder seinem Schatz tief in die Augen sehen.
Vilnius war nicht immer die Hauptstadt Litauens. Einst erstreckte sich das heute so kleine Land von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, und in Union mit Polen war es das größte Reich Europas. Sitz des Großfürsten war Trakai. Seine dortige Inselburg ist auch heute einer der Höhepunkte jedes Litauenbesuchs. Stolz und trutzig erhebt sie sich in rotem Backstein auf einer Insel, umgeben von einem malerischen See. Im Sommer lässt sich der See befahren und bepaddeln, im Winter bisweilen begehen. Das ist zwar bitterkalt, doch eindrucksvoll, und die deftigen litauischen und karaimischen Speisen in einem der nahen Gasthäuser wärmen einen schnell wieder auf. Die Karaimen sind ein jüdisches Turkvolk, das zusammen mit den Tataren vom Fürsten Vytautas hier angesiedelt wurde.
Die Litauer selbst verbringen ihre Freizeit gerne in der Natur. Züge halten scheinbar mitten im Nirgendwo, doch sind dies die Haltepunkte für Wander- und Kanuausflüge. Ein Drittel des Landes ist von Wald bedeckt, es gibt allein fünf Nationalparks und 30 Regionalparks. Also bitte die Outdoorkluft einpacken und ab nach Litauen – aber den Mückenspray nicht vergessen!
Oft ist Vilnius nur ein Stopp auf einer Baltik-Rundreise. Das ist ein tolles Erlebnis, wird dem Land aber nicht zur Gänze gerecht. Ein paar Tage kann und sollte man hier jedoch definitiv schon bleiben. Und endlich den Unterschied zwischen Litauen und Lettland lernen.
Marek Firlej
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