Was raschelt da im Unterholz?
Umgang mit ›verwaisten‹ Rehkitzen
Es war Mitte Mai letzten Jahres irgendwo im Wald: Eigentlich sollte es nur ein kleiner Spaziergang werden. Plötzlich nehme ich in meinem toten Winkel eine Bewegung wahr. Etwas raschelt im Gestrüpp am Wegesrand. Wahrscheinlich nur ein Eichhörnchen, sage ich mir, bleibe aber kurz stehen, um mich zu vergewissern – schließlich könnten zu dieser späten Stunde auch Wildschweine oder Räuber unterwegs sein.
Wurde es von seiner Mutter verlassen?
Was ich sehe, lässt mir das Herz aufgehen: Ein Rehkitz steht da auf vier wackeligen Stelzenbeinen im Unterholz und schaut mich aus riesigen Augen ängstlich an. Das Bild ist an Niedlichkeit nicht zu überbieten, und ich kann mein Glück kaum fassen. Ein kleines Reh! Zum Anfassen nah! Mitten im Ruhrgebiet! Dass ich das noch erleben darf! Nachdem ich den besonderen Moment geistesgegenwärtig mit der Handykamera festgehalten habe, kommen mir jedoch Fragen und Zweifel: Warum ist das Kitz allein unterwegs? Müsste es um diese Uhrzeit nicht längst im Bett sein? Wurde es von seiner Mutter verlassen? Wie kann ich helfen?
Ein raffinierter Überlebenstrick
Weil das Internet alles weiß, schließe ich die Handykamera und nutze Google. ›Sie haben ein Rehkitz gefunden und wissen nicht, was Sie tun sollen?‹ Ich nicke eifrig und klicke auf den Link. ›Auf jeden Fall sollten Sie Ruhe bewahren und das Junge nicht streicheln!‹ Schon klar, denke ich, denn dass man wilde Tiere nicht streicheln soll, ist ja so ziemlich das Erste, was sie einem damals im Kindergarten beigebracht haben. Ich überfliege den Text, klicke mich weiter durch und erfahre, dass neugeborene Rehkitze in den Monaten Mai und Juni von ihren Müttern oftmals über viele Stunden allein gelassen werden – zu ihrem Schutz. Offenbar handelt es sich um einen raffinierten Trick, um Fressfeinde zu täuschen und das Überleben der Kleinen zu sichern.
Perfekt getarnt
Was komisch klingt, ergibt beim Weiterlesen durchaus Sinn: In der Natur ist das Kitz mit seinem gefleckten Fell perfekt getarnt. Überdies besitzt es keinen ausgeprägten Eigengeruch. So bleibt es von Raubtieren eher unbemerkt. Die Mutter sucht ihren Nachwuchs in den ersten Lebenswochen nur auf, um ihn zu säugen. Den Rest des Tages sitzt das Kleine allein im hohen Gras. Entdeckt man beim Spazierengehen ein Rehkitz, heißt dies also noch lange nicht, dass es verwaist ist. Höchstwahrscheinlich befindet sich die Reh-Mama ganz in der Nähe. Hier ist es nicht die Aufgabe des Menschen, einzuschreiten. Im Gegenteil: Der menschliche Geruch könnte die Ricke irritieren und sie im schlimmsten Fall dauerhaft verschrecken – was einem Todesurteil für das Kitz gleichkäme. Ähnliches gilt übrigens für junge Füchse oder Feldhasen.
Was tun bei akuter Gefahr?
Anders verhält es sich, wenn ein wildes Tier verletzt oder durch landwirtschaftliche Arbeiten akut gefährdet ist. Auch in solchen Fällen sollte man aber zunächst nicht auf eigene Faust handeln, sondern, sofern es die Situation erlaubt, lieber das zuständige Forstamt, den Jäger oder die nächste Wildtierstation kontaktieren. Ich wage einen zweiten Blick – bei sicherem Abstand, versteht sich: Mein ›Findelkind‹ guckt zwar immer noch herzig ›tierisch‹, was dazu führt, dass ich es mit meinem Leben beschützen möchte. Zum Glück sieht es aber weder verletzt noch krank aus. Es sind auch keine Mähmaschinen in der Nähe. Ich muss wohl einsehen, dass meine ›Hilfe‹ hier nicht gefragt ist. Also ziehe ich mich leise zurück, hoffe das Beste und lasse der Natur ihren Lauf.
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