Stadtmagazin Witten: Dies und Das

›Selbstverhauptung‹

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Ich bin 1981 geboren. Es waren schätzungsweise 5.000 Kernwaffen in Deutschland stationiert, und als Junge machte man irgendwann mal Judo. Die Welt war pazifistisch – zumindest meine. Ab 1990 brach dann der Erste Weltfrieden aus. Alle Konfliktherde lösten sich auf. Es gab nichts, was noch hätte schlecht sein oder werden können.

Ab 2000 bemerkten wir, dass wir zu wenig ›Psycho‹ im Leben haben. Alles irgendwie ›BWLlig‹, trocken. Über die Managementliteratur brach die Zeit der Selbstliebe und gewaltfreien Massenkommunikation über uns herein. Therapietools, bis dahin gut behütet in Therapiekontexten angewendet, wurden auf Bahnhofsliteraturniveau heruntergebrochen und weit verstreut. Ergebnis: Wir sind alle gewaltfrei und dankbar. Zumindest vordergründig.

Ich bin heute selbst Vater von mehreren Kindern. Viele davon maskulin. Wie etliche ihrer Altersgenossen gehen sie seit frühester Jugend in den Kindergarten. Eine Tatsache, die sie in ihrer Entwicklung sehr weit gebracht hat. Dort wurde ihnen, entsprechend der modernen Pädagogik, vom ersten Tag an beigebracht, dass Gewalt keine Lösung ist. Was ich begrüße, weil es stimmt. Ihnen wurde gezeigt, dass Hauen, Kratzen, Beißen und Spucken keinen adäquaten Umgang miteinander darstellen. Konflikte löst man … Ja, wie eigentlich, wenn man noch gar nicht sprechen kann, oder nicht richtig!? Aber sie wuchsen ja, und damit stiegen ihre rhetorischen Fähigkeiten exponentiell an.

Friede, Freude, Eierkuchen?

Mitnichten. Sie balgten und rangen trotzdem, primär mit den eigenen Geschwistern, wahlweise aber auch mit anderen Kindern. Selbst die Brille eines Mitkindergartenkindes war einmal beteiligt und ging zu Bruch.

Strenge Regeln fürs liebevolle und dankbare Dasein

Die Welt von Kindern hängt heute voll mit potenziell liebevoll gedachten Regeltafeln:
• Wir helfen einander
• Wir sind pünktlich
• Wir stören keine Mitschüler
• Wir lachen miteinander und nicht übereinander
• Wir sind immer füreinander da
• Wir sind ehrlich zueinander
• Wir lösen Konflikte im Dialog
• usw.

Jedes Möbelhaus verkauft inzwischen Gesetzestafeln für den Umgang miteinander. Und alles, was auf ihnen steht, ist richtig, korrekt und erstrebenswert. Genauso wie die biblischen 10 Gebote es sind. Es gibt nichts gegen sie zu sagen. Aber: Sie sind mehr Ziel als Alltag, mehr Wunsch als Wirklichkeit. Sie fantasieren eine perfekte Welt herbei. Und die gibt es nicht. Was macht das mit uns?

Wir scheitern irgendwie ständig

Gestern haben wir wieder über statt mit jemandem gelacht. Uns ging jemand kolossal auf die Nerven, und wir wünschten diesem Menschen einen bunten Blumenstrauß von Pech. Wir waren vielleicht mal wieder doch nicht hundertprozentig ehrlich. Und was, wenn jemand mal vollständig auf alle schönen Regeln pfeift? Dann lösen wir das im Gespräch. Und wenn das Gegenüber statt Reden das Schubsen oder Pöbeln vorzieht?

Angst

Die Folge kann Angst sein. Angst vor der eigenen Hilflosigkeit. Verstehen Sie mich nicht falsch. Das hier ist kein Plädoyer für Gewalt oder physische Konfliktlösungen. Ich gehöre zu denen, die in den Nullerjahren Psychologie studierten und dann Fach- und Führungskräfte, Klienten – und alle, die sonst noch wollten, – in die weißen Künste der Selbstwahrnehmung, modernen Kommunikation und Co. einführten. Und das tue ich noch heute. Daher weiß ich, wovon ich spreche.

Wir sind hilflos

Wir können reden und sagen, dass wir uns vom Gegenüber wünschen, dass zukünftig doch dieses oder jenes anders laufen soll. Wir fragen viel, weil dies aktive Kommunikation ist, und hören auch aktiv zu.  Wir lachen miteinander – mal mit Faust in der Tasche, mal ohne. Aber die Faust verlässt die Tasche nie. Wir haben Verständnis für alles und freuen uns für jeden. Egal wie es sich anfühlt.

Und wenn all diese Methoden nicht ziehen? Hilflosigkeit.

Wir werden nicht laut. Wir brechen Dialoge nicht ab. Das haben wir nie gelernt. Und unsere Kinder lernen es noch weniger. Klar sind wir mal aggressiv, aber das zeigen wir nur wohl dosiert. Passiv. Wir zeigen uns – immer entsprechend der Möbelhausgesetztafel. Und gleichzeitig spüren wir, dass die Welt so nicht funktioniert. Dem Klischee der asiatischen Philosophie entsprechend, gibt es immer entgegengesetzte Kräfte. Sie wirken zusammen und entstehen auseinander. Yin und Yang. Schwarz und Weiß. Gut und Böse. Laut und Leise. Bud Spencer und Terence Hill. Tünnes und Schäl. Und wir negieren sehr oft eine der beiden Seiten. Sie dürfen nicht sein. Das verursacht Stress, denn man muss ja aktiv ausblenden, was offensichtlich da ist.

Parallel fehlt uns das Handwerkszeug. Balgen, raufen, körperlich für uns einstehen… das schaffen wir immer weniger. Weil man es lernen muss. Und wir haben es nicht gelernt. Wir werden anfällig, biegsam und fragil, vertrauen unserem Körper nicht mehr, in Konflikten zu bestehen. Wir sind nicht wehrhaft. Und das trotz des Überangebots von Resilienz-Seminaren und Feelgood-Magazinen.
Resilienz stammt vom Wort für ›abprallen‹ ab. Und damit etwas an mir abprallen kann, muss ich robust sein. Der Wunsch, dass die anderen schon rücksichtsvoll mit mir sein werden, erfüllt sich selten. Und Yoga, das ich persönlich sehr schätze, ist letztlich nur eine Methode des In-sich-Gehens, des Alleinseins. Das ist gut, denn es muss mal sein. Und es braucht einen Gegenpol.

Selbstbehauptung

Bei aller geliebten Gewaltlosigkeit sind wir vor gelebter Grenzüberschreitung nicht geschützt. Wir müssen uns schützen. Interessanterweise werden Menschen, die Selbstbehauptungskompetenz ausstrahlen, seltener Opfer von Grenzüberschreitungen. Im Automobilclub sind wir ja nicht, weil wir damit rechnen, dass die Karre gleich den Geist aufgibt. Wir sind Mitglied, um vorbereitet zu sein. Weil es erleichternd wirkt, wenn wir wissen, dass wir vorbereitet sind. Ebenso können und sollten wir uns darauf vorbereiten, uns selbst behaupten zu können. Weil es entlastet, Freiheit bringt, Angst nimmt.

Pazifismus

Das hat absolut nichts mit einer Anti-Pazifismus-Haltung zu tun. Die Vermeidung von Konflikten und der unbedingte Wille zum Frieden sollte uns alle tragen. Ein Pazifist sollte jedoch kein Opfer sein und nur zur Gewaltlosigkeit tendieren, weil er (m/w/d) sich hilflos oder wehrlos fühlt. Wir sollten wieder dahin kommen, dass Wehrhaftigkeit und Selbstbehauptungskompenz als zivilisatorische Errungenschaft – und nicht als gesellschaftlicher oder individueller Rückschritt – verstanden wird. Wir sollten uns mental und körperlich in die Lage versetzen, Grenzen aufzuzeigen, abzustecken und abzusichern. All das ist irgendwo verloren gegangen, und es macht etwas mit uns.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer Mauer. Etwas höher als Ihre Kniehöhe. Aufgabe: aus dem Stand drüberspringen. Falls das kein Problem ist: kein Problem. Falls Sie es nicht können: kein Drama, aber ein doofes Gefühl. Und genau dieses Gefühl verteilt sich in uns, wenn die eigene Selbstbehauptungskompetenz nicht ausreicht, um Hindernisse zu überwinden. Wir können lange gut damit zurechtkommen, Mauern zu umgehen, Wege so zu wählen, dass wir nicht in die Verlegenheit kommen, springen zu müssen.  Das macht die Wege mühsamer, und wir sind ängstlicher, dass der Weg enden könnte. Und irgendwann gibt es vielleicht keinen Weg mehr ohne Mauer. Dann ist es gut, vorbereitet zu sein.

Und konkret …?

Nein, es geht nicht darum, dass Sie sich nun zur Kampfmaschine stählen, zum Prepper werden oder die alten ›Jean-Claude van Damme‹-Videokassetten rauskramen. Aber genauso wie wir das Radfahren, das Laufen, Tennisspielen oder Fußball lernen, kann man auch Selbstbehauptung üben. Niemand von uns käme auf die Idee, dass man durch den Kauf eines Fußballs zum Fußballer (m/w/d) wird. Genauso verhält es sich mit der Widerstandsfähigkeit in Situationen, in denen man unfreundlich behandelt oder sogar angegangen wird.

Klar, in unserer Fantasie sind wir dann alle eloquent, schlagfertig und gewappnet. Aber das ist nicht die Realität. Wussten Sie, dass selbst Weglaufen im Ernstfall oft nicht klappt? Auch das muss geübt sein. Und, ganz ehrlich: Wann sind Sie zuletzt so richtig gespurtet? Lange her, oder? Das heißt im Zweifelsfall: Sie können noch nicht mal vernünftig weglaufen.

Wann haben Sie zuletzt mal jemanden so richtig angebrüllt, um Distanz zu schaffen? Aha …? Und wann zuletzt außerhalb der eigenen vier Wände? All das kann man üben.

Weg mit dem Fleck

Ich liebe es, dass ich in einer Zeit aufwachsen durfte, in der die Welt ein Hort des Friedens war. Ich liebe es, dass ich so behütet leben darf, wie wir es heute in Deutschland tun. Ja, es gibt Probleme, im Kern gab es aber wahrscheinlich in der Menschheitsgeschichte nur ganz selten Leute, die so privilegiert leben konnten, wie wir es heute in Deutschland machen. Spätestens 2001 haben wir aber gelernt, dass der Weltfrieden eben doch nicht ausgebrochen war. Ganz plastisch dann nochmal im Februar 2022 und am 07.10.2023.

Ich liebe es, dass ich mit dem blinden Fleck aufwachsen konnte, dass der Klügere stets nachgibt und wir kurzfristig alle Probleme mit den Mitteln des Intellekts lösen können würden. Es hat nicht geklappt. Und das ist nicht schlimm. Jetzt sollten wir diesen Fleck aber wegwischen und dem Zeitalter der Küchentischpsychologie auf Social-Media-Kacheln eine Prise selbstbewusste Körperlichkeit hinzufügen. Gegen die Angst, gegen das Gefühl nicht bestehen zu können. Das garantiert nichts, und scheitern werden wir gelegentlich weiter. Aber mit breiterer Brust.

Passen Sie auf sich und andere auf!

Ihr Christoph Palmert

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